Der Kampf mit meinem Körper

Frauen und Kleidersorgen stehen im Klischee-Lexikon auf Seite 1. Doch wenn man an der Startlinie mehr mit dem eigenen Outfit als mit den nächsten 100 Metern und 10 Hürden beschäftig ist, wird es problematisch. Olympionikin Pamela Dutkiewicz mit einem offenen und ehrlichen Blick auf Kilos, Karriereträume und knappe Outfits.


Meine Eltern sind beide Sportler. Papa Fußballer, Mama 800m-Läuferin. Ich habe mich eigentlich mein Leben lang bewegt. Wie jedes Mädchen kam auch ich in die Phase, in der man mit 14 oder 15 hier und da mal eine Kurve bekommt. Da war aber alles noch kein Problem. Mit 16 oder 17 Jahren wurde das Gewicht dann für mich zum ersten Mal ein Thema und zwar zu dem Zeitpunkt, als ich von Kassel nach Bochum ins Sportinternat gezogen bin. Ab dann war ich auf das Essen in der Kantine angewiesen, was sich übrigens seitdem nicht verändert hat. Es ist lecker aber sehr fettig und nicht sportlergerecht – und das bei einer Kantine im Olympiastützpunkt. Toast zum Abendessen ist nur ein Beispiel. Ich trainiere heute noch dort, allerdings esse ich nicht mehr in der Kantine, seitdem ich vor fünf Jahren aus dem Sportinternat ausgezogen bin.

Im Internat habe ich das erste Mal gemerkt, dass ich echt zunehme. Und es begann, dass ich mich unwohl fühlte. Ich glaube, jeder weiß, wie man bei Wettkämpfen in der Leichtathletik rumläuft: Man hat knappe Sachen an, man hat enge Sache an. Ein kurzes Höschen, ein kurzes Top. Und ich habe mich besonders unwohl gefühlt. Eine Sache, die ich nie vergessen werde, ist, wie ich vor einigen Wettkämpfen nachts den sehr engen Bund meiner Wettkampfhose über eine Stuhllehne gespannt habe. Ich wollte, dass sich dadurch der Bund weitet und mir an der Hüfte nicht mehr einschneidet. Selbst im Training habe ich ein Top unter mein T-Shirt gezogen, damit das Shirt nicht so anliegt. Dabei habe ich mich zu Tode geschwitzt – das würde ich heute niemals machen. Das war wahnsinnig anstrengend und ich habe mich unfassbar unwohl gefühlt … und ich hatte immer das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden – auch von der Konkurrenz. Im Sprint entscheidet deine Körpersprache so vieles. Wie trittst du auf? Was strahlst du aus? Und besonders trainiert muss ich in der Zeit auch nicht ausgesehen haben.

„Die Pummelige“

Darüber hinaus hatte ich den Eindruck, dass das Gewicht auch die Universalantwort war, wenn es einmal nicht so gut lief. „Naja, du konntest ja auch nicht schneller laufen, du bist ja zu schwer“, hieß es dann immer. Das war auf jeden Fall eine schwere Phase. Leider musste ich auch mitbekommen, wie mich ein wichtiges Mitglied des Betreuungsteams „die Pummelige“ genannt hat. Das hat mich unfassbar getroffen und ist tatsächlich bis heute in meinem Kopf. Ich habe auch mitbekommen, wie viele andere, jüngere Mädels ähnliche Probleme hatten und wie über diese Mädchen gesprochen wurde. Sie wurden nie ernst genommen und es wurde sich über sie lustig gemacht. Da konnte ich davon ausgehen, dass es bei mir genauso ist. Aber ich war ja trotzdem immer gut. Ich habe immer zur deutschen Jugendspitze gehört, habe Medaillen bei der deutschen Meisterschaft geholt und war 2010 die Drittschnellste U20-Athletin der Welt.

Ich war also immer vorne mit dabei, hatte aber trotzdem immer Schiss, was für ein Foto in die Zeitung kommt. Das hat meine Gedanken total eingenommen und ich habe dann am nächsten Tag angespannt die Zeitung aufgeschlagen und nach meinem Bild geschaut. Im Stadion zu stehen und sich zu wundern, ob der Speck irgendwo rausguckt, hat mir unglaublich den Fokus genommen. Das war allgegenwärtig. Ich habe in der Freizeit dran gedacht, im Training, im Wettkampf – dann, wenn man es am allerwenigsten gebrauchen kann.

Ich glaube, viele im Team wussten sich da nicht zu helfen und wussten nicht, was sie mit mir machen sollten. Also wurde ich immer wieder auf die Waage gestellt und alles wurde dokumentiert. Für mich war das eine absolute Erniedrigung. Es war mir peinlich. Und da hat es auch angefangen, dass ich sehr unregelmäßig gegessen habe. Ich wusste beispielsweise, mittwochs werde ich gewogen. Also habe ich schon einmal den ganzen Mittwoch lang nichts gegessen und wenig getrunken – spart ja auch Gewicht. In dem Alter habe ich noch nicht so sehr darüber nachgedacht, aber solches Essverhalten fördert natürlich auch nicht die sportliche Leistung.

Tee und einen Apfel!

Auch wenn man bei so unregelmäßigem Essen nicht unbedingt von „diszipliniert“ sprechen kann: Ich habe wirklich nicht so viel Ungesundes und Schlechtes gegessen. Aber ich hatte Heißhunger-Attacken. Ich erinnere mich an einen Käsekuchen, den eine Freundin von mir von einer Trainerin zum Geburtstag bekommen hatte. Den haben wir dann in einer Nacht gekillt. Sie hatte kein Gewichtsproblem, aber ich hatte den ganzen Tag Gewissensbisse. Bis zum nächsten Wiegen wurde dann wieder nichts gegessen. Das war unfassbar schlimm. Ich werde auch den einen Satz nicht vergessen, den einer aus dem Betreuungsteam gesagt hat. „Iss einfach einen Apfel am Tag, trink ansonsten Tee!“ Mit meinem heutigen Wissen und meinem heutigen Körpergefühl kann ich nicht verstehen, wie man so etwas tatsächlich sagen kann. Wie wenig Wissen steckt da drin? Damals habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht und es tatsächlich getan: Einen Apfel am Tag und ansonsten nur Tee getrunken. Man ist ja beeinflussbar. Ich habe mich ja auch unwohl gefühlt und wollte was dagegen machen, hatte aber das Vertrauen in den Körper verloren. Mir war ja immer bewusst, dass ich zu schwer war. Beim Sprinten drückt sich jedes unnötige Kilo direkt in Zehnteln und Hundertsteln aus.

Nach einem halben Jahr unregelmäßigen Essens habe ich dann ein Jahr lang mit einem Ernährungsberater vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) zusammengearbeitet – absolut individuell hieß es damals. Und obwohl ich diszipliniert nach den Plänen gelebt habe – passiert ist genau nichts. Danach habe ich zwei Jahre lang mit einem Coach von Herbalife zusammengearbeitet. Im ersten halben Jahr sind ein paar Kilos gefallen und ich habe mich riesig gefreut. Aber in den folgenden anderthalb Jahren ist leider nichts mehr passiert. Auch wenn ich nicht mehr mit Herbalife zusammenarbeite weiß ich, dass mein Coach alles getan hat, um mir zu helfen – mein Körper brauchte aber etwas anderes. Das Konzept war bei beiden Beratern eigentlich sehr ähnlich: Die Grundannahme war, dass immer wieder Hungerphasen durch das unregelmäßige Essen entstanden sind und ich daher drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten am Tag essen müsse. Mein Blutzuckerspiegel sollte dadurch dauerhaft hochgehalten werden – obwohl ich oft gar keinen Hunger hatte. Am Ende habe ich echt gedacht: „Krass, wenn selbst ein Ernährungsberater dir nicht helfen kann, dann kann ich vielleicht gar nicht dünner werden.“ Das war extrem belastend.


Endlich Zeit

Im Februar 2015 war ich bei der deutschen Hallenmeisterschaft dann richtig gut drauf. Ich war im Vorfeld schon die Norm für die EM zwei Wochen später gelaufen und habe bei der deutschen Meisterschaft auch Silber geholt. Dann bin ich aber beim Auslaufen so unfassbar dumm mit beiden Füßen umgeknickt, dass ich mir in beiden Sprunggelenken gleichzeitig alle möglichen Bänder gerissen habe. Es ging gar nichts mehr – und das vor der Europameisterschaft. Und ich erinnere mich an ein Bild, wie ich auf der Bahn liege und wie viele Kilos da zu viel liegen … das hat sich in meinen Kopf gebrannt. Aber das war mein Segen – weil ich endlich Zeit hatte.

Nach der Verletzung habe ich viel zu früh angefangen zu trainieren, um doch noch für die Sommersaison fit zu werden. Aber es hat sich relativ schnell rausgestellt, dass das nicht funktioniert – dass mein Körper noch nicht soweit ist. Also hatte ich auf einmal sechs Monate Zeit. Zeit etwas auszuprobieren. Sonst habe ich immer von Saison zu Saison gelebt und habe eigentlich immer an dem festgehalten, was ich gemacht habe, um mir die Chance auf die nächste Saison nicht zu verbauen. Ich hatte also auf einmal einen Haufen Zeit und habe mich in einer Klinik in Bochum einmal komplett durchchecken lassen, um von Hormonen bis zur Schilddrüse wirklich alles noch spezifischer als bisher untersuchen zu lassen. Nach zwei Tagen kam raus, dass eigentlich alles in Ordnung ist und ich war super enttäuscht, weil wieder einmal ein Strohhalm, an den ich mich geklammert hatte, zerbrochen ist. Keine Erklärung für das gleichbleibende Gewicht. Die Ärztin hat meine Verzweiflung vermutlich gesehen und hat mich dann in Kontakt mit Mark Warnecke, dem ehemaligen Schwimmer, gesetzt. Er ist mittlerweile Mediziner und hat zusammen mit einem Ernährungswissenschaftler eine Firma aufgebaut. Für mich war das der absolute Wendepunkt.

Entlastung für Kopf und Körper

Ich habe also einen Termin bei Mark Warnecke in Witten vereinbart, habe mich mit ihm und Dr. Heinze, seinem Ernährungswissenschaftler getroffen und habe ihnen meine Story erzählt. Und ich weiß noch genau, wie Dr. Heinze zu mir gesagt hat „Du hast Ahnung vom Essen und von deinem eigenen Körper. Der Inhalt deiner Ernährung ist klasse, aber wenn ich ehrlich bin, hast du dich gemästet.“ Und das ist in meiner Erinnerung geblieben. „Du hast dich einfach gemästet.“ Er hat mir dann erklärt, dass ich – wie übrigens auch Mark Warnecke – ein Typ bin, der nicht besonders viele Kalorien braucht, um seinen Körper zu regenerieren. Seine Empfehlung war genauso weiter zu essen, aber von fünf auf drei Mahlzeiten zu reduzieren und mir morgens zu gönnen, worauf ich Lust habe – sogar Schokolade, die gab es bei mir seit Jahren nicht. Also habe ich die Ernährungspläne, nach denen ich jahrelang auf Empfehlung anderer gelebt habe, abgeschafft und stattdessen mit Dr. Heinze meine eigene Strategie entwickelt. Und die Resultate sind unfassbar. Die Entlastung, die ich dadurch gespürt habe, ist ein Mix aus Kopf und Körper.

Wöchentlich konnte ich die Veränderungen an meinem Körper sehen. Ich habe nie gedacht, dass man bei meinem Körper mal Bauchmuskeln sehen würde. Endlich bin ich selbstbewusst, wenn ich auf der Bahn stehe. Früher stand ich dort und mein Fokus war überall, aber nicht auf meiner Bahn. Da gab es 1.000 Nebenschauplätze. Was trägt die? Wo sitzt da die Hose? Was ziehst du da am besten drunter? Und jetzt stehe ich auf der Tartanbahn und kann meinen Fokus auf das setzten, auf das es ankommt. Das ist für uns Sprinter ja sowieso das Wichtigste. Und der Abnehmprozess hat dabei ohne Hungern und ohne Diät funktioniert. Mittlerweile sind 10 kg runter. Wahrscheinlich hätte ich die entsprechenden Schritte auch intuitiv selbst machen können, aber ich habe zu krampfhaft an den Plänen festgehalten.

Klingt nach Klischee – ist aber so

Ich habe unfassbar viel Wissen und Vertrauen über und auch Verständnis für meinen Körper gewonnen. Und es klingt super abgedroschen, das ist mir schon bewusst, aber ich glaube, dass viele Leute, viele Mädels, ein ähnliches Problem haben. In der Pubertät verändert sich der Körper und man hat dann vielleicht nicht das Vertrauen. Ich musste immer wieder Umwege und auch neue Wege finden, aber ich glaube wirklich, dass ein gewisses Durchhaltevermögen und an sich und seine Träume zu glauben einfach belohnt wurde – so klischee-mäßig das jetzt auch klingt. Und jetzt steht da halt eine komplett andere Pam als noch vor ein paar Jahren – der Kampf dafür ging lange: ganze neun Jahre.

Pamela Dutkiewicz
Pamela Dutkiewicz ist nicht nur gut in dem, was sie tut (Bronze bei der Hallen-EM in Belgrad), sondern sie passt auch zu Wortathleten wie PB zu J. Offen, ehrlich, direkt. Und mit #PämBäm auf direktem Weg in unsere Nickname-Hall of Fame!